Quellenbrief 9, Juni 2018
Ihr Lieben!
Lange habt ihr keinen Quellenbrief mehr bekommen, aber dafür habe ich in den letzten Wochen und Monaten einen Vortrag vorbereitet, den ich am 25. Mai in der Aula der Uni Graz am 4. Kongress „Denk- und Handlungsräume der Psychologie“ gehalten habe. Er ist so kompakt und interessant geworden, dass ich ihn auf meine Homepage gestellt habe: https://www.siegfriedessen.com/wp-content/uploads/2024/09/SE-Geist-VortragBilder.pdf.
Vieles wird euch an unsere gemeinsme Arbeit erinnern, besonders die Erläuterungen des Medizinkreises und der indianischen Schöpfungsgeschichte. Ein zentraler Gedanke ist aber ziemlich neu und beruht auf einem Interview mit Vivian Dittmar (https://pioneersofchange-summit.org/speaker/vivian-dittmar-3xvb/).
Vivian Dittmar unterscheidet 5 Formen des Denkens, stellt also neben das rationale Denken, das wir meistens als einziges Denken gelten lassen, das Denken des Herzens, der Intuition, die Inspiration, das emotionale Denken und die Absicht als Denkform. Ich habe sie in den euch bekannten Medizinkreis eingetragen und im Vortrag etwa folgendes dazu gesagt: (Spielt selbst damit weiter mit Repräsentanten oder Bodenankern!)
Erinnert euch daran, dass die Ost West Achse die spirituelle Achse ist (Nagual) und die Nord-Süd-Achse die materielle (Tonal-) Achse, die wir in diesem Leben als Mann oder als Frau verkörpern.
Das faszinierende daran für mich ist, dass sie dies als Formen des Denkens, d.h. als Geisteskräfte betrachtet, die einander ergänzen und prüfen, sich gegenseitig unterstützen und sich ausgleichen sollen. In der Schule lernen wir ja fast ausschließlich das rationale Denken. Ein bisschen üben wir auch das intuitive Körper-Denken im Kunstunterricht oder im Sport. Und wenn wir Glück haben, bekommen wir von Vater und Mutter zu Hause auch noch etwas Herzensintelligenz mit, das Denken und Wahrnehmen in bedingungsloser Liebe.
Alle Denkformen oder Denkdisziplinen werden mit einer bestimmten Körperregion assoziiert und dort auch gespürt. Und genauso wie alle Körperregionen miteinander verbunden sind und aufeinander angewiesen, genauso wird auch unser Denken nur im Miteinander all seiner Ausprägungen lebendig, lustvoll und wirkungsvoll. Und genauso können auch einzelne Denkarten unterdrückt und verdrängt werden, sodass schwerwiegende kognitive und emotionale Schäden und Schieflagen auf der Tonalachse, d.h. in unserer Verkörperung, entstehen.
Es heißt ja, dass über 90 % unserer gesamten Intelligenz unter der Bewusstseinsgrenze schlummert und darauf wartet, geweckt und in Gebrauch genommen zu werden. Nämlich die Teile unseres Geistes, die das Ganze, die unendliche Vernetztheit, das Selbst betreffen. Aber vielleicht schlafen diese Kräfte gar nicht, sondern sind unter der Bewusstseinsgrenze dauernd aktiv und erfüllen ihre Aufgabe im Moment noch besser im Dunkel des Unbewussten, geschützt vor dem Zugriff zwanghaften linearen Verstehenwollens.
In seinem Buch „Quantenphilosophie und Spiritualität“ meint der Biophysiker Ulrich Warnke, dass es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen den 97 % dunkler Materie und dunkler Energie im Weltall, die er Quantenfeld oder das Meer aller Möglichkeiten nennt, und den ebenfalls 97 % unbewusster und ungenutzter Kräfte in uns. Nach der Quanten-Logik realisiert sich Materie durch Messen und Beobachten (siehe Heisenberg). Also nicht: wir beobachten die Realität da draußen, sondern wir schaffen sie – durch gezieltes Messen und Beobachten, durch gezielte Anwendung der Ratio und des Willens bzw. der Absicht.
Schauen wir uns mal die nicht rational organisierten Denkformen an wie z.B. die Herzensintelligenz. Das Herz steht für unsere Mitte, für Mitgefühl und bedingungslose Liebe und Nichteinmischung. Wenn das Herz lange nicht gefragt wird, reagiert es oft mit schmerzhafter Sehnsucht, oder mit Verwirrung und Aufregung. Und wenn der Kopf weiter die Dominanz behält, gehen wir mit dem Herzschmerz oder der Herzrhythmusstörung zum Arzt oder zum Psychotherapeuten, statt den Schmerz oder die Verwirrung als eine ganzheitliche Beurteilung der vorliegenden Situation ernst zu nehmen.
Die Herzensintelligenz ist zu unterscheiden von der Intuition. Das ist das Denken, das in Verbindung mit der Erde entsteht, das geerdete Denken. Aus dem Dunkel der Materie, aus dem Westen, wo die Sonne untergeht kommen oft Impulse, die wir der Emotionalität zuordnen, weil wir sie nicht verstehen. Aber eigentlich werden diese Impulse aus dem Dunkeln nur gestört und überdeckt durch emotionale Erinnerungen. Positive oder negative Erinnerungen sind aber oft nichts als Assoziationen des Kopfes an alte Geschichten, die mit den intuitiven Impulsen vermischt und verwechselt werden. Natürlich empfiehlt der Kopf für diese emotionsgeladenen Erinnerungen seine Denk-Methode: die rationale Analyse. Aber diese Emotionen brauchen oft nichts als ausgedrückt zu werden und schon verschwinden sie und geben Raum für klare Aufmerksamkeit auf die Impulse der Intuition. Es ist wie wenn man die verschiedenen Himmelsrichtungen und Elemente, in diesem Fall den Westen und den Süden vermischt und verwechselt; die Erde und das Wasser, statt sie zu unterscheiden und ihre jeweils spezifische Qualität und Kraft wahrzunehmen. Die integrale Kraft der Erde hat eine andere Wirkung und eine andere Aufgabe als die alten Geschichten aus unserer Vergangenheit. Letztere gehören zum Wasser und müssen einfach fließen.
Was können wir tun, um unsere Intuition wieder lebendig werden zu lassen? Wir können unsere Emotionen ausdrücken und sie unterscheiden von der Qualität der Erde. Das intuitive Denken ist das Gebären aus dem Dunkeln, aus dem Mutterschoß der weiblichen Urkraft. Langsames Kompostieren, Recyceln und Wiedergeburt, das ist die Art der Transformation, die uns das Element Erde anbietet.
Man könnte sagen, die Intuition wird „vermüllt“ durch alte emotionsgeladene Bilder, Geschichten und Glaubenssätze. Der indianische Schamane Swift Deer nennt das despektierlich unser Unterhaltungsprogramm.
Und die Inspiration wird vermüllt und verstopft durch die Informationsflut, die wir über das Fernsehen, Internet und die sogenannten Social Media an uns heranlassen. Wir sollten, glaube ich, auch innerlich „Mülltrennung“ praktizieren: die Signale der Intuition von denen der Emotion unterscheiden und die Signale der Inspiration von denen der Ratio. Die Signale von unten aus dem Dunkel der Gebärmutter der Materie nicht verwechseln mit den Signalen unserer eigenen Kindheit und der kollektiven Vergangenheit. Die Signale von oben, die Inspiration nicht verwechseln mit der Überflutung durch das Überangebot von Werbung und Informationen. Also die spirituelle (Nagual-) Achse stärken, indem wir sie von der materiellen, historischen Erfahrungen und Konditionierungen der Tonal-Achse unterscheiden. Kleine Übung dazu: Ablösung der Projektionen vom Selbst (Schleier wegziehen). Große kongeniale Übung: das Ritual „blühender Baum“ aus dem 3. Modul.
Was können wir tun, um unsere Intuition, Inspiration und Herzensdenken wieder lebendig werden zu lassen? Wir können das Fernsehen und das Handy kurz abschalten, 1 Minute Unruhe und Nervosität aushalten, denn der Dauerstress im Körper läuft eine Zeit lang weiter wie ein Schwungrad. Allmählich wird sich dann der Parasympathikus bemerkbar machen und wir legen uns ein paar Minuten hin oder gehen spazieren, spüren den Atem oder auch den Kopf- oder Rückenschmerz. Der Körper erinnert uns ununterbrochen an seine Bedürfnisse. Wenn wir diese Erinnerungen, die positiven und die negativen, dankbar oder zumindest aufmerksam annehmen, werden sie sich in Quellen verwandeln. Quellen, die uns aus der Unendlichkeit zufließen und speisen.
Intuition kommt aus dem Dunkeln. Inspiration kommt aus der Stille. Nun noch zur letzten der Denkarten: Zum Beabsichtigen, Wählen, Entscheiden. Vivian Dittmar vergleicht die Absicht mit einem gespannten Bogen, dessen Pfeil sich auf ein bestimmtes Ziel richtet. Aber was hat das Spannen des Bogens und auflegen des Pfeiles und das Ausrichten auf ein Ziel für einen Sinn, wenn der Pfeil nicht abgeschickt wird. Das positive Denken der neunziger Jahre war oft solch eine abgebrochene Hinbewegung: wir sind herumgelaufen und haben unsere Pfeile auf die tollsten Ziele gerichtet – ohne sie abzuschießen. Dann haben wir uns gewundert, dass das Universum überhaupt nicht reagiert, nicht mit der Wimper zuckt.
Bei den Indianern ist die Absicht das verbindende Element, unsere Ausrichtung und Aktivität mit der wir frei von einem Element, von einer Denkform zur anderen switchen, vom logischen Verstehen im Norden zu den emotionsgeladenen Geschichten im Süden, von der Intuition im Westen zur Inspiration im Osten und umgekehrt. Ohne an irgendetwas davon festzuhalten bzw. zu glauben. Volles Risiko! „Wähle, was du willst, und lehne nicht ab was du nicht willst“, wie ich im letzten Quellenbrief geschrieben habe.
Wenn man allerdings an so etwas nicht glaubt wie die Verbundenheit aller Dinge, dann ist man arm und einzig auf sich selbst gestellt. Ein Irrtum zwar, aber auch wirksam: er bringt Einsamkeit, Burn Out und Depression. Außerdem erzeugt er weitere Illusionen wie Stolz und Überlegenheit, Schein-Sicherheit, Opfertum und Mitleid. Auch das ist eine Wahl, die das Selbst geduldig respektiert bis zum Tod. Dann allerdings fallen der Körper und alle fixen Ideen des Geistes wie ein Kartenhaus zusammen.
Kommen wir zurück auf die Königsdisziplin des Geistes, das rationale Denken. Je mehr sich unsere Ratio entwickelt, desto mehr erkennt sie die Verflochtenheit aller Dinge, die wechselseitige Abhängigkeit aller Zellen und Organe im Körper, aller Körper miteinander und mit größeren Strukturen sowie die wechselseitige Durchdringung von Geist und Materie. Und desto demütiger und einsichtiger und offener wird der Geist gegenüber der unendlichen Komplexität des Kosmos. Diese Demut und Reife der Ratio drückt sich aus im Gebet, dass man heute Wissenschaft nennt, weil sie erkannt hat, dass alles, was wir erkennen können, nur Modell der Wirklichkeit ist, und die größten Computer das Leben nur simulieren können. Und dass wir unsere Modelle des Lebens und Sterbens – um mit Karl Popper zu sprechen – niemals beweisen, sondern bestenfalls falsifizieren können. Der ehrliche und demütige Geist betrachtet seine Feststellungen und Ergebnisse als Hypothesen oder Grenzerfahrungen, die selbstverständlich ohne Ende überschritten werden.
Die letzte Stufe des Geistes ist die Kraft der Wandelung und des Überschreitens. Das Darüberhinaus und das immer Neue, das Leben als grenzenlose Ausdehnung. Und genau das ist unser aller Sehnsucht und Schicksal. Was wir sehen, hören, fühlen und denken sind nur Wirkungen. Der Heilige Geist ist reines Feuer, er verbrennt alles zu Asche. Und aus der Asche entsteht unvorhersehbar Neues. Wenn wir ihm begegnen, erschrecken wir zuerst zu Tode, erleben es als Chaos, als unaushaltbares Brennen und Verbrennen, später dann als Auflösung und als das Wunder der Einheit des Einzelnen mit dem All.
Die neue Herzenswunsch-Aufstellung macht genau das erlebbar: Du stellst deinem Ich deinen Herzenswunsch gegenüber (mit irgendeinem vorläufigen Namen, zum Beispiel Frieden, Geldfluss, Liebe, …). Das Ich wird erstmals sämtliche Abwehr-, Ausweich-und Ablenkungsmechanismen auffahren, die es in seinem bisherigen Lebensweg gewählt hat. Deshalb darfst du auch dein Ich nicht selbst spielen, sondern musst es von außen anschauen, bis die beiden Repräsentanten ein volles und 100-prozentiges Ja zu sich selbst und zum Anderen gesagt haben. Dann erst kannst du die beiden Aspekte deiner selbst in ihrer vollen Wirklichkeit von innen erfahren.
In der indianischen Schöpfungsgeschichte wird das so beschrieben:
Die beiden Ur-Energien, die weibliche und die männliche Urkraft vereinigten sich in „Quodoushka“, der heiligen Hochzeit, die gemeinsam zu mehr wurden als nur der Summe ihrer Teile. Und in dem sie erkannten, dass der Zweck der Schöpfung die Entdeckung der Substanzform durch orgiastisches Vergnügen war, um sich selbst zu erkennen, machten die beiden Liebe und erschufen alle Dinge innerhalb des Alles. Und so wurde die Erde zur physischen Manifestation der Liebesenergie des Großen Geistes. (Mary Flaming: Süße Medizin. Die Lehren der Twisted Hairs, Bd. 1, Tübingen, 2001)
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Rückruf: Das Buch Flaming, Süße Medizin habe ich vor Jahren jemandem von euch verliehen und nicht zurückbekommen. Da sind viele Notizen und Unterstreichungen von mir drin. Bitte schau in deinem Bücherschrank nach und schicke es mir zurück, wenn es sich dort versteckt hat. Dunkelblauer Buchrücken mit weißer Schrift „süße Medizin“.